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Das evolutionäre Rätsel des Säugetierohrs

Die Gehörknöchelchen übertragen Geräusche ins Innenohr, sowohl bei Säugetieren (links) als auch bei Vögeln (rechts). Von den drei Gehörknöchelchen der Säugetiere (Hammer, Amboss und Steigbügel) korrespondiert der Steigbügel (S) zur Colume
Die Gehörknöchelchen übertragen Geräusche ins Innenohr, sowohl bei Säugetieren (links) als auch bei Vögeln (rechts). Von den drei Gehörknöchelchen der Säugetiere (Hammer, Amboss und Steigbügel) korrespondiert der Steigbügel (S) zur Colume (C), dem einzigen Gehörknöchelchen der Vögel. Hammer (M) und Amboss (I) sind aus den ursprünglichen Kiefergelenksknochen evolviert

Wie konnte sich das Ohr der Säugetiere – mit seinen kleinsten Knöchelchen des Skelettes – an die unterschiedlichsten Funktions- und Umweltbedingungen am Land, im Wasser und an der Luft anpassen? Dieses Rätsel versuchen Forschende um Philipp Mitteröcker von der Universität Wien zu lösen. Ihr Fazit: Die Integration der Knochen des ursprünglichen Kiefergelenks in das Ohr der Säugetiere hat die evolutionäre Freiheit für eine unabhängige Anpassung des Ohres erst möglich gemacht.

Das Ohr der Wirbeltiere ist eine außergewöhnliche Struktur. Eng eingekapselt in den dichtesten Knochen des Skeletts, umfasst es die kleinsten Knochen – die Gehörknöchelchen – und ist Ursprung des Gehör- und Gleichgewichtssinns. Es ist auch an der Aufrechterhaltung von Kopf- und Körperhaltung sowie der Blickstabilisierung bei Kopfbewegungen beteiligt. Nirgendwo sonst im Wirbeltierskelett sind so verschiedene funktionelle Einheiten derart eng aneinandergereiht, was eine unabhängige Evolution der einzelnen Ohrkomponenten erschwert.

Erschwerte evolutionäre Bedingungen
Auch das Wachstumsmuster des Ohrs weicht von dem des restlichen Skeletts ab: Bei Menschen und anderen Säugetieren erreichen das Innen- und Mittelohr bereits vor oder sehr früh nach der Geburt ihre endgültige Größe. Dies erschwert zusätzlich die evolutionäre Veränderung des Ohres, da die nachgeburtliche Entwicklung wesentlich zu den Unterschieden zwischen vielen Säugetierarten beiträgt.

Dies alles macht es rätselhaft, wie Säugetiere in der Lage waren, als vorwiegend nachtaktive und auf das Hören angewiesene Gruppe eine so große Vielfalt von ökologischen Nischen im Wasser, an Land, unter der Erde und in der Luft zu besiedeln. Denn diese verschiedenen Lebensweisen benötigen nicht nur Anpassungen der Hörfähigkeiten, sondern auch eine erstaunliche Diversität der Fortbewegung und Körperhaltung. Wie konnten sich die verschiedenen, eng miteinander verbundenen Teile des Ohrs unabhängig voneinander an diese unterschiedlichen Funktions- und Umweltbedingungen anpassen?

Transformation des Kiefergelenks in das Ohr
Trotz seiner ähnlichen Funktion besteht das Ohr bei Säugetieren, Vögeln und Reptilien aus verschiedenen Knochenelementen. Bei Vögeln und Reptilien besteht der Unterkiefer und dessen Gelenk aus mehreren Knochen und lediglich ein einziges Gehörknöchelchen überträgt den Schall. Im Gegensatz dazu haben heute lebende Säugetiere drei Gehörknöchelchen – Hammer, Amboss und Steigbügel – und einen Knochen (Ectotympanon), der das Trommelfell trägt, die alle vom Kiefer getrennt sind. "Diese evolutionäre Transformation des ursprünglichen Kiefergelenks in die Gehörknöchelchen von Säugetieren ist einer der herausragendsten Schritte der Wirbeltierevolution. Warum diese komplexe Veränderung stattgefunden hat, ist weitgehend unklar", so Philipp Mitteröcker vom Department für Evolutionsbiologie der Universität Wien.

Fähigkeit zur adaptiven Evolution
Mitteröcker und eine Gruppe von Forscher*innen der Universität Wien und des Konrad-Lorenz-Instituts für Evolutions- und Kognitionsforschung suchten eine Erklärung für dieses evolutionäre Rätsel. Ihre Hypothese: Die Integration der Knochen des ursprünglichen Kiefergelenks in das Ohr der Säugetiere hat – zusätzlich zur direkten Verbesserung von Kauen und Hören – auch die "Evolvierbarkeit" (die Fähigkeit zur adaptiven Evolution) des Ohrs und die damit verbundenen sensorischen Funktionen erhöht. Damit steigerte sich die Zahl der genetischen und entwicklungsbedingten "Knöpfe", an denen die natürliche Selektion „drehen“ kann, und in Folge auch die evolutionäre Freiheit für eine unabhängige Anpassung der verschiedenen Komponenten des Ohrs. "Nur so konnte die erfolgreiche Anpassung der Säugetiere an die zahlreichen ökologischen Nischen gelingen. Säugetiere entwickelten im Vergleich zu Vögeln tatsächlich eine viel größere morphologische und funktionelle Vielfalt und sogar evolutionäre Neuheiten – und dies, obwohl Vögel in ihrer Artenzahl vielfältiger sind als Säugetiere ", schließt Philipp Mitteröcker.

Universität Wien


Originalpublikation:
Anne Le Maître, Nicole D.S. Grunstra, Cathrin Pfaff, Philipp Mitteroecker: „Evolution of the mammalian ear: An evolvability hypothesis“, Evolutionary Biology 2020

 https://doi.org/10.1007/s11692-020-09502-0